An der Ostseeküste zwischen Polen und Deutschland befindet sich eine einzigartige Naturlandschaft mit einer in Mitteleuropa selten gewordenen Lebensraumvielfalt: Das Stettiner Haff. Hier leben Seeadler, Biber, Wisent, Elch, Wolf, Stör und Kegelrobbe neben einer Vielzahl verschiedener anderer Säugetier-, Vogel- und Fischarten in freier Wildbahn. Das Oder-Delta ist das erste und einzige Gebiet der internationalen Initiative Rewilding Europe in Deutschland, die Teile der Landschaft am Haff der freien Entfaltung von Wildtierpopulationen widmet und daraus hochwertige saisonunabhängige Naturerlebnisangebote entwickelt. Die Region erstreckt sich über mehr als 250.000 Hektar, wovon fast 70.000 Hektar die offenen Gewässer des Haffs sind.
Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) setzt sich gemeinsam mit der polnischen Tourismusorganisation Stepnicka Organizacja Turystyczna und HOP, dem Transnationalen Netzwerk Odermündung e.V. für eine nachhaltige Entwicklung in der Region ein.
„Das Oder-Delta ist eines der aufregendsten Wildnisgebiete im nördlichen Mitteleuropa, wo Wildtiere in natürlichen Dichten vorkommen. Nicht weit von Berlin und in der Nähe von Stettin und den Sommerbädern entlang der Ostseeküste kann diese wilde Landschaft eine neue Einkommensquelle für die lokale Bevölkerung schaffen“, sagt Iwona Krępic, Vorsitzende der Stepnicka Organizacja Turystyczna (SOT, Stepnicka Tourismusorganisation) und polnische Leiterin des Oder-Delta Rewilding Teams.
Für den Naturtourismus besitzt das Gebiet großes Potenzial
Zwischen der deutschen Hauptstadt, der polnischen Hafenmetropole und der Insel Usedom prägen Buchenwälder auf Steilküsten, riesige Flussdeltas, Auwälder, ausgedehnte Moore und trockene Heidelandschaften die Region um das Haff, das mit einer Ost-West-Ausdehnung von über 50 Kilometern die zweitgrößte Lagune der Ostsee ist.
Für den Naturtourismus besitzt das Gebiet großes, bislang ungenutztes Potential. Das betont Ulrich Stöcker, Leiter der Naturschutzabteilung der DUH und deutscher Leiter des Rewilding Teams, und erläutert, dass nachhaltiger Naturtourismus regionale Wertschöpfung für Gebiete im Hinterland der Küste und außerhalb der Hauptreisezeiten schafft. „Strategisch an einem bedeutenden Schnittpunkt der natürlichen Wildtier- und Zugvogelkorridore gelegen, bietet die Region ums Haff ein enormes Naturkapital. Menschen erkennen und verstehen mehr und mehr, dass es gilt, die Natur und Tierwelt als wichtigste Ressource der Region zu bewahren.“
Ziel der Rewilding Europe Initiative am Stettiner Haff ist es dabei, Vielfalt und Anzahl der Wildtierbeobachtungen weiter zu entwickeln, so dass Gäste in jedem Monat des Jahres attraktive Angebote vorfinden. Auf diese Weise sollen Unternehmen gefördert werden, die den Werten einer wilden Natur verbunden sind. Dazu Martin Schröter, Koordinator des regionalen Unternehmensnetzwerks Transnationales Netzwerk Odermündung e.V. (HOP): „Durch freiwillige zusätzliche Naturschutzmaßnahmen und die Schaffung eines Netzwerks von lokalen Wildnis-Führern, Wildbeobachtungs-Touren und -Verstecken, Lodges und ähnlichen Produkten bzw. Geschäftsfeldern kann die Region wirtschaftlich nachhaltig profitieren.“
Pilotprojekte, von denen Ökonomie wie Ökologie profitieren
SOT, HOP und DUH und ihre lokalen und regionalen Partner sind überzeugt, dass das Oder-Delta eine wichtige Naturtourismus-Destination für Gäste aus Europa und darüber hinaus und eine hoch anerkannte europäische Marke werden kann. Ausgehend von diesen Möglichkeiten starten die Organisationen in Zusammenarbeit mit kooperierenden Grundbesitzern und Unternehmern Pilotprojekte, von denen Ökonomie wie Ökologie profitieren sollen. Verschiedene Akteure, lokale Behörden, Grundbesitzer, Bewohner, Tourismusunternehmen und Jäger unterstützen die Oder-Delta Rewilding Initiative. Grundbesitzer werden in die Lage versetzt, neue Einkommensquellen zu erschließen, und Tourismusunternehmen können von Gästen in der Region profitieren, die Wildtiere in eindrucksvollen Landschaften erleben wollen.
„Durch die einheimischen wildlebenden Tierarten als Schlüssel – die Big Seven des Oder-Delta – besteht eine fantastische Möglichkeit zur Stärkung der natürlichen Schönheit der Region mit Hilfe eines weiteren Rewilding, von dem Mensch und Natur profitieren“, sagt Frans Schepers, Managing Director von Rewilding Europe. Sieben besondere ikonische Arten wurden als die “Oderdelta Big Seven” ausgewählt: Seeadler, Europäischer Bison, Biber, Elch, Wolf, Atlantischer Stör und Kegelrobbe.
Auch Schepers betont das ungenutzte Potential für den Tourismus, welches die Region mit brütenden Seeadlern, frei lebenden Wisenten, laichenden Lachsen, Meerforellen und Stören sowie Wölfen und Elchen bietet.
Die Renaturierung von Feuchtwiesen in Deutschland und der Verzicht auf Torfabbau in Polen haben ein dramatisches Comeback der Tierwelt ermöglicht, am spektakulärsten für Seeadler, die jetzt die höchste Brutdichte in Europa haben, sowie für Kranich, Fischotter, Biber, Lachs, Meerforelle und viele andere Arten.
Das Oderdelta ist ein wichtiger Zwischenstopp für ziehende Wasservögel, die den East Atlantic Flyway nutzen. Der East Atlantic Flyway ist eine Migrationsroute, die jährlich von etwa 90 Millionen Vögeln genutzt wird und von ihren Brutgebieten in den USA, Kanada, Grönland, Island, Sibirien und Nordeuropa zu Überwinterungsgebieten in Westeuropa und weiter ins südliche Afrika führt.
Je wilder die Landschaft wird, desto mehr wird die Tierwelt sichtbar und kann ihre ökologischen Schlüsselrollen im Oderdelta spielen. Die Überflutung ehemaliger Polder entlang des deutschen Peenestroms hat aufregende Abschnitte neuer Natur mit reicher Vogelwelt, Fischottern und Bibern geschaffen, sogar am Rande von Städten wie Anklam. Sowohl Deutschland als auch Polen haben den immensen Wert des Gebietes erkannt und zwei Drittel aller Flächen und Gewässer für den Naturschutz und die Wiederbelebung zur Verfügung gestellt.
Entstehung der Rewilding Oder-Delta Initiative
Die Anstrengungen der Projektpartner und von Rewilding Europe wären ohne die Erfahrungen und Leistungen der verschiedenen lokalen Organisationen, NGOs, Naturschutz- und Regierungsbehörden nicht möglich gewesen, die in der Vergangenheit den Wolinski Nationalpark und Schutzgebiete wie Olszanka, Czarnocin, Uroczysko Święta und Świdwie in Polen sowie die Wildnisgebiete Ueckermünder Heide und Peenetal in Deutschland dauerhaft gesichert haben. Ein herausragendes Beispiel ist die Wiederherstellung der Feuchtgebiete an der Peene, die inzwischen als “Amazonas des Nordens” bekannt geworden ist. Diese Renaturierung hat zu einem spektakulären Wildtier-Comeback geführt, so dass während der Erkundung der Region Seeadler, Fischotter, Biber, Lachs, Meerforelle und viele anderen Arten zu erleben sind. Im Ergebnis ist die Flusslandschaft des Peenetals zu einer der bekanntesten Wildnis-Tourismus-Destinationen in Europa geworden und leistet einen wesentlichen Beitrag für die regionale Wirtschaft.
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Die Artenvielfalt hat zugenommen mit guten Beständen von Wolf, Biber, Fischotter, Rotwild, Kegelrobbe, Lachs, Stör und vielen anderen heimischen Fischarten. Die Population des Schweinswals in der Pommerschen Bucht nimmt wieder zu. Bedeutende und wachsende Herden des europäischen Wisents und Elchs weiten ihr Verbreitungsgebiet in Polen aus und stehen kurz vor einem großen Comeback in Deutschland. Seeadler, Schreiadler, Fischadler, Weißstorch, Schwarzstorch, Uhu, Kranich, Seggenrohrsänger, Weißbartseeschwalbe, Weißflügelseeschwalbe, Stelzenläufer, Bekassine, drei Rohrweihenarten und viele andere Vögel haben stabile Bestände in der Oder-Delta-Region.
Das Rewilding-Oder-Delta-Team arbeitet nun in Zusammenarbeit mit den lokalen Gemeinden und dem Landesamt für Landwirtschaft und Umwelt in Mecklenburg-Vorpommern an der Wiederherstellung der Fischpopulationen und der Fischwanderung im Stettiner Haff und den dazugehörigen Flüssen. Zu den Aktivitäten, die sich auf die Flüsse im Landkreis Vorpommern-Greifswald konzentrieren, gehören die Wiederbegrünung von Flussufern, die Wiederherstellung der natürlichen Hydrodynamik, die Beseitigung von Hindernissen zur Unterstützung der Fischwanderung und die Wiedervernässung von an Wasserstraßen angrenzenden Flächen.
Auf der polnischen Seite arbeitet der Partner von Rewilding Oder Delta, an der Wiederherstellung von Laichgewässern und der Reduzierung der Wilderei, um die Rückkehr von Wanderfischen wie Lachs und Forelle zu ermöglichen.
Mit der Aufnahme des Oder-Delta als 8. Region geht Rewilding Europe einen weiteren Schritt hin zu seinem Ziel der Entwicklung von zehn Rewilding-Regionen in ganz Europa bis 2022.
Über Rewilding Europe
Rewilding Europe wurde am 28. Juni 2011 formell als unabhängige, gemeinnützige Stiftung (ANBI-Status) mit Sitz in den Niederlanden gegründet. Die vier Mitbegründer von Rewilding Europe sind Frans Schepers, Staffan Widstrand, Neil Birnie und Wouter Helmer. Rewilding Europe umfasst derzeit zwei Gesellschaften mit beschränkter Haftung, die Rewilding European Capital B.V. und die Rewilding Europe B.V..
Als unabhängige Organisation hat sich Rewilding Europe als paneuropäische Initiative etabliert, die an der vordersten Front des Rewildings auf europäischer Ebene agiert. Die Stiftung arbeitet mit zahlreichen Partnern zusammen, sowohl auf europäischer, nationaler als auch lokaler Ebene. Der Rewilding Europe Circle, eine Versammlung von Botschaftern und Beratern, wurde im Jahr 2015 gegründet.
Nach mehr als neun Jahren engagierter Arbeit ist Rewilding Europe auf einem guten Weg und habe beachtliche Fortschritte gemacht. Der Rewilding-Prozess in Europa hat eine erhebliche Dynamik erreicht. Rewilding Europe will bei der Weiterentwicklung dieser neuen Naturschutzbewegung auf dem gesamten Kontinent weiterhin eine Vorreiterrolle einnehmen.
Das zentrale Team besteht derzeit aus sieben Führungspositionen mit insgesamt etwa 16 Mitarbeitern. Der Sitz von Rewilding Europe befindet sich in Nijmegen, Niederlande.
Stand Mitte 2020 arbeitete Rewilding Europe in acht großen Rewilding-Gebieten in ganz Europa mit Mitarbeitern, Vorstandsmitgliedern, Botschaftern und Freiwilligen aus 18 europäischen Ländern.
Neben dem Oder-Delta sind es das Côa-Tal in Portugal an der Grenze zu Spanien. Die Region ist übrigens auch durch den Parque Arqueológico do Vale do Côa, einer der wichtigsten archäologischen Parks Portugals, bekannt. Weiterhin gibt es Rewilding-Gebiete im Donaudelta (lest dazu unseren Beitrag über den Djerdap Nationalpark), in den Karpaten, in Kroatien, im Appennin, in den Rhodopen in Bulgarien in Lappland (lest auch unseren Beitrag über Schwedisch-Lappland).
Übrigens, wer unter fachkundiger Anleitung diese Regionen besuchen will, kann das mit der European Safari Company (https://www.europeansafaricompany.com/) tun. Das Tourismus-Unternehmen ist spezialisiert auf “wilde Abenteuer in Europa”. Fünf Prozent der Buchungssumme gehen an die lokale Rewilding Europe-Organisation.
Titelfoto / Seeadler, Haliaeetus albicilla, von Fischerboot, auf Seeadler-Safari-Touren in der Stettiner Haff, Polen, Oder-Flussdelta. / Foto: Staffan Widstrand / Rewilding Europe
Weiterführende Links:
Wildes Deutschland: das Oder-Delta in Vorpommern (Video auf Youtube)
Safaris in the Oder Delta (Video auf Youtube in englischer Sprache)
Wildnis in Deutschland (Webseite der Zoologischen Gesellschaft Frankfurt von 1858 e.V.)